Interview mit Prof.‘in Kathinka Beckmann
München / Koblenz im Juli 2019
Prof.‘in Dr. Kathinka Beckmann von der Hochschule Koblenz und ihr Forscherinnenteam veröffentlichte im Mai 2018 eine umfassende Studie zu den Arbeitsbedingungen im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der bundesdeutschen Jugendämter. Das Interview mit Prof.in Beckmann führte Philipp Heinze (Personalrat Sozialreferat Landeshauptstadt München; Sprecher ver.di Betriebsgruppe Sozialreferat München).
Philipp Heinze: Nach Veröffentlichung der Zahlen zum geschätzten Personalmehrbedarf in den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter von insg. 16.000 Fachkräften war die Aufregung groß. Die einen haben sich in ihren Forderungen bestätigt gesehen, die anderen versuchten die Forschungsergebnisse dazu zu torpedieren. Wie ging es zur Personalbedarfsdebatte im Sommer und Herbst 2018 weiter?
Kathinka Beckmann: Kontrovers, kritisch, lebendig. Dass es in den Jugendämtern an Personal fehlt, ist unbestritten zumal auch der Deutsche Beamtenbund von mindestens 3.000 fehlenden Mitarbeitenden spricht. Für die Politik ist im vergangenen Oktober deutlich geworden, dass die Basis dringenden Handlungsbedarf sieht, da sich zum ersten Mal die Mitglieder von GEW, ver.di und DBSH zusammen zu einer großen Demo zusammengefunden haben, um auf die schwierige Lage der Sozialarbeitenden in den ASD aufmerksam zu machen.*
Von einer gesetzlichen Fallzahlobergrenze sind wir kurzfristig zumindest noch weit entfernt. Folglich bleibt als Instrument die Personalbemessung. Welche Erfahrungen haben Sie hinsichtlich der Personalbemessung in den ASDs. Wird dies von den Kommunen nun stärker in Anspruch genommen?
Zumindest haben sich einige ASD aus verschiedenen Bundesländern bei uns gemeldet und berichtet, dass sie jetzt eine personelle Deckung von 115 oder 125% umsetzen oder anstreben, um die krankheits- oder schwangerschaftsbedingten Ausfälle zu kompensieren.
Was sind die Beweggründe für die Kommunen, die sich das Verhältnis der bestehenden Personalausstattung und Arbeitsmenge genauer anschauen? Fluktuation, Qualitätsdebatten um die Beziehungsarbeit zu stärken, öffentlicher Druck, Ihre Studie?
Dass unserer Studie soviel Aufmerksamkeit bekommen hat, haben wir als Zeichen gewertet, dass eine Diskussion über die schwierige, fordernde Arbeit in den ASD längst überfällig war. Sicherlich haben zum Teil auch unsere Ergebnisse in einigen Kommunen dazu geführt, dass das Arbeitspensum in Relation zur personellen Ausstattung neu oder sogar zum ersten Mal angeschaut worden ist. Hoher Krankenstand, anhaltende Fluktuation und fehlende Bewerbungen auf offene Stellen im ASD waren und sind Thema vieler Fachtagungen und Diskussionsrunden im gesamten Bundesgebiet. Momentan wird die personelle und finanzielle Ausstattung der Jugendämter mitsamt der fehlenden Fachaufsicht aber vor allem vor dem Hintergrund der medial breit diskutierten Kinderschutzfälle von Lügde, NRW thematisiert.
Wie sehen Sie die Personalbedarfe der nächsten 10 Jahre im Verhältnis zum Fachkräftemangel? Sollte man von der Forderung die Personalbedarfe zu bemessen Abstand nehmen, weil man derzeit ohnehin nicht sofort alle zusätzlichen Stellen besetzen kann? Die Arbeitgeber argumentieren zum Teil so...
Für mich stellen sich hier ganz andere Fragen: Warum ist es so schwer, die bestehenden Stellen zu besetzen? Wie konnte es passieren, dass ein so spannendes und vielseitiges Arbeitsfeld so unattraktiv für viele Sozialarbeitenden geworden ist? Welche Strategie ist nötig, um das zu ändern? Und dann: ich sehe die Personalbedarfe eher vor dem Hintergrund steigender Fallzahlen im HzE- und 8a- Bereich und frage mich als Hochschullehrende vielmehr, was wir in den Studiengängen zur Sozialen Arbeit verändern müssen, um Absolvierende generell besser auf heutige Erfordernisse in der Arbeit mit Kindern und ihren Familien vorzubereiten. Ganz generell halte ich es für wichtig, dass sich die Kommunalparlamente neben ihrem Auftrag zur Selbstverwaltung stärker mit ihrem Auftrag zur Sozialstaatlichkeit beschäftigen und sich gerne auch in Zusammenarbeit mit den Jugendhilfeausschüssen überlegen, wie sie gemäß § 79 SGB VIII ihr lokales Jugendamt mit ausreichend Personal ausstatten können. Mir ist es seit Jahren ein Rätsel, warum die kommunalen Spitzenverbände die anderen föderalen Ebenen nicht stärker in die Pflicht nehmen: Wenn der Bund den Kita-Sektor - der auch zur Jugendhilfe gehört - mit Milliarden unterstützt, um den Ausbau weiter zu fördern und dem Fachkräftemangel auch in diesem Bereich zu begegnen, dann muss das auch für den ASD als zentralen Akteur im Kinderschutz möglich sein!
Was hilft Ihrer Meinung nach kurz- und mittelfristig gegen den vielerorts spürbaren Fachkräftemangel in der Sozialen Arbeit und im ASD im speziellen?
Einige Kommunen haben Anreize geschaffen wie z.B. flexiblere Arbeitszeiten, Homeoffice- Strategien oder auch Anfahrten zur Arbeit schon als Dienstzeit anzuerkennen...inwieweit das hilft bleibt abzuwarten. Grundsätzlich braucht es eine größere gesellschaftliche Anerkennung inklusive besserer Bezahlung für den Sozialen Bereich; daneben glaube ich, dass wir Fachkräfte brauchen, die auch mal laut und unbequem den Wert ihrer Arbeit nach außen verdeutlichen und sich im Modus der Einmischung für ihre AdressatInnen auch in die Politik einbringen. Für den ASD sehe ich den Dreh- und Angelpunkt in einer adäquat gestalteten Einarbeitungssituation, die u.a. vorsieht, dass man im ersten halben Jahr keine Federführung in Kinderschutzfällen übertragen bekommt.
Die Stärkung der Fachlichkeit ist ein Eckpfeiler im KJHG. In Ihrer Studie arbeiteten Sie heraus wer der Hierarchie nach mit welcher Rolle und welchem fachlichen Hintergrund an Entscheidungen für eine Hilfe zur Erziehung neben der fallverantwortlichen Fachkraft noch beteiligt sein kann (zB. Landrat). Was kann man eigentlich konkret unternehmen, wenn man die Einschaltung und Entscheidung einer völlig fachfremden Führungskraft rechtlich überprüfen lassen möchte?
Wie Dr. Wiesner als „Vater des SGB VIII“ seit Jahren betont, liegt die Hilfeentscheidung immer bei der zuständigen Fachkraft und fachfremdes Einmischen z.B. durch Dezernenten oder Landräte widersprechen den Grundsätzen der Hilfeplanung und sind gesetzeswidrig! Da dies aber vielerorts immer wieder passiert, brauchen wir zum einen ein im besten Sinne widerständiges Personal, das sich dagegen wehrt; zum anderen eine Fachaufsicht, an die sich die Mitarbeitenden im Sinne einer Ombudsstelle wenden können. Solange es die nicht gibt, würde ich fachfremdes Sich-Einmischen im (K)JHA thematisieren.
Erschreckend plastisch und leider allzu realistisch stellten sich die Forschungsergebnisse zum KlientInnen-PC-Verhältnis dar. Ca. 60 Prozent der Arbeitszeit geht für Dokumentation und Selbstverwaltung drauf, für die eigentliche Arbeit mit den AdressatInnen bleiben im Durchschnitt nur 40 Prozent der Arbeitszeit. Gibt es Bestrebungen oder bundesweite Best-Practice-Beispiele wie der Verwaltungs-/Dokumentationsaufwand zu Gunsten der Arbeit mit den Klientinnen und Klienten reduziert wird?
Gerade gestern war eine ASD-Fachkraft aus einem sächsischen ASD bei mir, die berichtet hat, dass sie jetzt Verwaltungskräfte für Schreibarbeiten, Formulare ausfüllen, Anträge bearbeiten einstellen, um die pädagogischen Fachkräfte wieder ihre eigentliche Arbeit machen zu lassen...frappierend ist doch, dass viele die Einführung der elektronischen Akte als Be- und nicht Entlastung erleben, weil sie trotzdem noch Handakten führen müssen und so einen doppelten Dokumentationsaufwand haben!
Frau Dr. Beckmann Danke für das Interview!
Bundesfachgruppenleiterin / Dipl. Sozialpädagogin, Sozialarbeiterin, Diakonin
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